DIE WIEDERENTDECKUNG HEINRICH VON KLEISTS

Im Jahre der denkwürdigen Zweiten Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands hat die Notwendigkeit, aus der eigenen Geschichte zu lernen, eine Revision mancher Ansichten über den Dichter Heinrich von Kleist im deutschen Volke herbeigeführt. Das Ergebnis solcher Erkenntnisse ist unter anderem dieses Buch.
"Über die Notwendigkeit, aus der eigenen Geschichte zu lernen", nannte Fritz Lange einen im Juni 1952 veröffentlichten, vielbeachteten Beitrag über das Beispiel des großen Patrioten Neithardt von Gneisenau. Lange stellt in einigen Sätzen fest, in welcher Lage sich Deutschland heute nach der verbrecherischen Unterzeichnung des Generalkriegsvertrages durch die Regierung Adenauer befinde, um dann sogleich zu zeigen, daß nach dem totalen Zusammenbruch des preußischen Staates von 1806 die damals herrschende Junkerklasse sich bereits in ähnlicher Weise "in die Gefolgschaft des siegreichen Räubers" begeben habe, um die eigene Herrschaft über das Volk zu sichern.
"Damals, vor über 100 Jahren", so heißt es bei Lenin, "machten einige Grüppchen Adliger und bürgerlicher Intellektueller Geschichte, während die Massen der Arbeiter und Bauern einen tiefen Schlaf schliefen." Lenin nannte die wenigen Menschen, die zum Widerstand aufriefen, als das deutsche Volk vom Militärstiefel Napoleons getreten wurde, "die besten Männer Preußens". Der Beitrag Fritz Langes verzeichnet ausdrücklich Heinrich von Kleist unter denen, die Lenin gemeint habe, und deren Hinterlassenschaft wir uns unbegreiflicherweise immer noch schämten. "Wir kennen nicht einmal Leben, Taten und Vermächtnis dieser Großen unserer Nation ..."
Auf der Zweiten Parteikonferenz wurde die in dieser Kritik enthaltene Mahnung von hervorragender Seite noch unterstrichen. In seiner Diskussionsrede kam Rudolf Herrnstadt bei der Besprechung historischer Berliner Ereignisse auf Michael Kohlhaas und nannte Kleist nicht nur einen deutschen Patrioten, der von der herrschenden Adelsgesellschaft zugrundegerichtet, sondern auch einen großen realistischen Dichter und Sprachschöpfer, dessen Bild von der Geschichtsschreibung bisher verfälscht worden sei. Ihm ein würdiges Denkmal zu errichten, bezeichnete er als ein Gebot der Stunde.
Ohne unsere Versäumnisse in der Erschließung des klassischen Erbes beschönigen zu wollen, muß auf die Unsicherheiten in der Beurteilung Kleists verwiesen werden, der vielfach einseitig unter die "reaktionären Romantiker" eingereiht, für "einen der aktivsten Ideologen des preußischen Nationalismus" und einen "militanten preußischen Junker" gehalten wurde, der lediglich "krankhafte Exzesse und pathologische Erlebnisse" dargestellt habe.
Georg Lukacs hat in seinem Werk "Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts" Licht und Schatten über dem Bilde Heinrich von Kleists richtig verteilt. Klassenmäßig sei der Dichter ein preußischer Junker gewesen. In einzelnen seiner Stücke ein Vorläufer der Dekadenz (Verfallserscheinungen) der späteren bürgerlichen Literatur. Dort aber, wo Kleist im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, der Realität, gestaltet habe, sei er, ohne es zu wissen und zu wollen, einer der bedeutendsten Realisten der ganzen deutschen Literatur geworden!
Dieser Zusammenstoß Kleists mit Themen aus der realen Welt, dem gesellschaftlichen Leben, hat uns so unvergängliche Meisterwerke wie den „Zerbrochenen [!] Krug" und den „Michael Kohlhaas" beschert. In unseren Tagen der nationalen Bedrängnis jedoch, angesichts der Bedrohung unseres Vaterlandes durch das Bündnis der imperialistischen Volksverräter des Westens mit den räuberischen amerikanischen Aggressoren, heute, wo es um Einheit und Frieden geht und wo alle wahren Patrioten aufgerufen sind, sich zum Schutz der Lebensrechte des deutschen Volkes zu wappnen, - in dieser unserer deutschen Gegenwart bringt sein leidenschaftliches Aufbegehren gegen nationale Unterdrückung und Versklavung Heinrich von Kleist uns besonders nahe.
"Für die marxistische Literaturbetrachtung ist das gestaltete Werk und seine Beziehung zur objektiven Wirklichkeit entscheidend", sagt Georg Lukacs. Indem wir Leben, Taten und Vermächtnis Heinrich von Kleists unter diesem Gesichtspunkt untersuchen, zeigt sich, daß seine Wiederentdeckung im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik ebenso folgerichtig wie bedeutungsvoll ist. "Das Kulturerbe ... zur Entfaltung zu bringen ..., den Arbeitern, Angestellten und der Intelligenz in den Großbetrieben die bedeutenden Werke der Literatur... zu vermitteln", — der Erfüllung dieser, uns in der Entschließung der Zweiten Parteikonferenz der SED gestellten Aufgabe dienen auch die Volks-Lesebücher. In ihrer Reihe durfte Kleist nicht länger fehlen.


Teil 1 des Vorworts von: Kleist. Ein Lesebuch für unsere Zeit. [Hrsg.] von Walther Victor. 1.-20. Tsd. Weimar: Thüringer Volksverlag 1953. S. 3-5. (Lesebücher für unsere Zeit. Hrsg.: Walther Victor)
Das gesamte Vorwort zum Kleist-Lesebuch, S. 3-24, vom Herausgeber unterschrieben, ist datiert 18. Oktober 1952. Am 5. März 1953 starb Stalin.
Dem Redaktionskollegium der "Lesebücher"-Reihe gehörten an: Heinz Bergenau, Tilly Bergner, Dr. Gertrud Pätsch, Wilhelm Rücker, Dr. Gerhard Steiner u. Gerhard Ziegengeist.