Im Januar 1811 ereignete sich in Berlin der seltene Vorfall, daß sich ein Frauenzimmer mit einem Pistolenschuß das Leben nahm. Und im November desselben Jahres ließ sich ein durch Romanenlectüre verbildetes Frauenzimmer durch ihren Buhlen erschießen. Die Gattin eines Mannes aus dem höheren bürgerlichen Stande, Adolphine V. geb. Kaber [!], eine kränkelnde Frau, welche als große Verehrerin der neuesten Poesie, an ihrer prätensionsvollen Schwerfälligkeit, ihrer affectirten Kindlichkeit und Natürlichkeit, ihrem vernunftwidrigen Mysticismus, ihren leeren Schwindeleien und ihrem gedankenlosen Klingklang ein großes Behagen fand, vergaß nach und nach darüber die Pflichten einer gewissenhaften Gattin, Mutter, und guten Hausfrau. Ein junger Schöngeist aus der berüchtigten romantisch=mystischen und neu=ästhetischen Schule, H. v. Kleist, der Verf. eines Romans: Käthchen von Heilbronn, lebte mit seinem Schicksal geraume Zeit in Fehde, und zog, wie die Schöngeister gerne zu thun pflegen, nach Art der Schmetterlinge den Blumen nach, bei denen es was zu nippen giebt: Er fand bald an der Madame V. eine geistige Buhlschwester, die mit ihm sich der Empfindelei ganz ergab. Die Gastfreundlichkeit, womit er in dieser Familie aufgenommen war, vergalt er mit einem geheimen Liebesverständniß, das sich zwischen ihm und der Gattin des Freundes, der ihn aufgenommen hatte, entspann. Da diese Liebschaft aber doch ihre Hindernisse fand und diese mystischen Schwärmer sich bei aller ihrer spirituellen Verfeinerung der gemeinen Menschennatur nicht entschlagen konnten, ja der alte Adam bei allen Schwärmern zu allen Zeiten mehr Anfechtungen des Fleisches verursachte, als bei der gemeinen und reell=arbeitsamen Menschenklasse, auch der Gatte der Dame sich vielleicht nach seiner gemeinen Ansicht der Dinge zu einer geistigen und leiblichen Uebereinkunft seiner Frau mit einem andern Manne nicht wohl verstehen mochte, so faßten beide Liebende den Entschluß, mit einander aus dieser lästigen Welt zu gehen. Kurz vor dem Entschluß sollen beide noch die von Götheschen Wahlverwandtschaften gelesen haben, und diese mögen auch wohl den Entschluß der beiden Schwärmer vollends genährt und bestärkt haben *). Mit den Mordgedanken im Herzen geht im November 1811 die Ehebrecherin mit ihrem Buhlen in ein Wirthshaus nach Potsdam, beide schreiben die ganze Nacht Briefe, und bereiten sich durch ein Uebermaaß erhitzender Getränke zu der schrecklichen Ausführung des Selbstmordes vor. Die Schwärmerin mußte die Feigheit des Buhlen mit Wein, Rum und Caffee erst bekämpfen. Morgens giengen sie aus dem Gasthofe zu einem nahen Wäldchen, und bestellten noch Caffee dahin. Bald aber hörte man zwei Schüsse. K. hatte vermuthlich erst die V. durchs Herz geschossen, und dann sich selbst; wahrscheinlich durch tiefes Einlegen der Pistole in den Mund, denn der Gesichtstheil war nicht verletzt. Beide Schüsse waren mit einer und derselben Pistole geschehen, weil die zweite noch geladen da lag. Der Mörder seiner Geliebten hatte also noch so viel vermocht, zum zweiten Mal zu laden. Man fapd seinen Leichnam über dem ihrigen liegen. - So endigte Romanenschwärmerei und poetische Ansicht ohne Moralität mit Verrücktheit und Selbstmord, und lohnte so bitter, wie sie schon oft denen lohnte, die sich solchen Kopf= und Herz verderblichen Neigungen ganz ergaben. - Das Herz jedes wahren Freundes der Menschheit und Tugend konnte bei der Nachricht von diesem Doppelmord nur von Mitleiden mit den beiden unglücklichen Verrückten und mit Abscheu gegen die That erfüllt werden; aber der innigste Unwille mußte es ergreifen, wenn man bald darauf hörte und las, daß ein, wie es scheint, durch die neuesten poetischen Ansichten eben so verrückter Freund dieser Mörder die Stirn hatte, in dem 142 [!] Stck. der Vossischen Zeitung zu Berlin diesen gedoppelten Mord, als eine rühmliche und preiswürdige That anzukündigen, und die verwandten Geister dieser unglücklichen Verrückten aus allen Jahrhunderten, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft glücklich zu preisen; ja zu behaupten, daß diese beiden Mörder diese Welt aus einem r e i n e n Verlangen nach einer bessern gemeinschaftlich verlassen haben. - Sie, die verehlichte Gattin eines Mannes und Mutter einer einzigen Tochter, dahingegeben der unerlaubten Liebe eines Fremden. - Tiefster Abscheu mußte das Herz ergreifen, wenn man las, daß dieser Vertheidiger der Ermordeten eine Apologie derselben verfassen, drucken lassen, und zum Besten einer wohlthätigen Anstalt verkaufen wollte, ja daß sogar der Gatte des entführten Weibes solches billigte, und ihren schauderhaften Tod, als das Ableben seiner innigst geliebten Gattin mit den Worten bekannt machte, daß ihr Tod rein gewesen sey, wie ihr Leben, und daß sie ihm geschrieben habe: „Weine, aber traure nicht. Denn ich sterbe einen Tod, wie sich wohl wenige Sterbliche erfreuen können, gestorben zu seyn, da ich von der innigsten Liebe begleitet die irdische Glückseeligkeit mit der ewigen vertausche." Ein Schreiben, welches die völlige Verrücktheit darthut. Das Weib verlangt, der Mann soll Krokodills= oder Freuden=Thränen vergießen.
Denn, wenn man weint und n i c h t t r a u e r t , so muß man entweder heucheln oder aus übermäßiger Freude weinen; und die Sterblichen sollen sich freuen können, gestorben zu seyn. Sind denn die Gestorbenen abermals sterblich? Und endlich ein Weib, welches pflichtvergessend ihren Gatten und ihr Kind verlässet, um mit einem Buhlen einen gemeinschaftlichen Mord zu begehen, vermeint aus der irdischen Glückseeligkeit in die ewige überzugehen? - Sind dieß nicht die deutlichsten Beweise, daß dieß Weib eine Närrin war?
Tröstend aber über diese moralische Verkehrtheit ist eines Theils, daß der König von Preußen die heillose Ankündigung des verrückten Apologeten öffentlich mißbilligte, und die Herausgabe einer solchen öffentlichen Lobpreisung unmoralischer und verbrecherischer Handlungen strenge verbot; andern Theils, daß der größere Theil des Publikums in und ausser Berlin über die That selbst sowohl, als über die Ankündigung und die darin aufgestellten Grundsätze mit höchster Indignation urtheilte. Man tadelte es laut, daß die Censur eine solche Ankündigung, die dem Morde und Selbstmorde das Wort redet, den Abdruck, noch dazu in den Zeitungen gestattet, die in die Hände aller Volksklassen kämen, und äusserte geradezu, wie unverantwortlich es sey, daß Staatsdiener öffentlich dergleichen unmoralische Ideen bekannt machen dürfen. Entsetzlich fand man besonders die Idee, daß die sogenannten höhern Naturen nach einem ganz andern als gewöhnlichen Maaßstabe abgemessen werden müßten. Als ob die höhern Naturen zu unmoralischen Handlungen und schauderhaften Verbrechen privilegirt wären, und wegen scheuslicher Ausbrüche ihrer Raserei gerühmt zu werden verdienten **)!

*) War es nicht genug, daß die giftigen Leiden eines jungen Werthers manchem unmoralischen Brausekopf das Gehirn verbrannt haben; mußten noch die unmoralischen Wahlverwandtschaften jungen Herzen den Verstand verrücken, und die letzten Funken von Moralität auslöschen?

**) Zeitg. f. d. elegante Welt 1811. Nr. 243 und 44. S. 1941. 1947. Morgenbl. 1811. S.1220. 1236. Man lese vorzüglich, was dort im 310 [!] Stücke steht: „Oeffentliche Seligsprechung und Vergötterung des Mordes und Selbstmordes in Deutschland." „Armes Deutschland, heißt es dort, wenn deine wahnsinnigen Schriftsteller ihre Tollheit bis zum Morde treiben, welche Nation wird der Mörder mehr zählen, als du?" - Westphäl. Monit. 1812. Nr. 25. Beil. - Allg. Modezeit. Leipz. 1811. S. 775. Der Verfasser sagt darüber sehr richtig: „Vor einigen Tagen ereignete sich in Berlin eine höchst sonderbare und schauderhafte Begebenheit, die um so mehr eine allgemeine Sensation gemacht hat, als sie die Besorgniß derjenigen zu bestätigen scheint, die unzufrieden mit dem Geiste, der in unserer neuesten schönen Litteratur vorherrschend zu werden droht, davon nur Unheil prophezeihten." - „Ich enthalte mich aller Bemerkungen über diese Schreckensscene; sie ist aber ein neuer Beweis, zu welchen blutigen Catastrophen oft die Verirrung von der Bahn der Tugend führt, und daß ein großer Unterschied zwischen ästhetischer und moralischer Bildung ist. Verbannt man alle moralische Rücksichten aus dem ästhetischen Urtheile, so würdigt man die schönen Künste zu Gaukelspielen herab, die nur zum Zeitvertreib dienen. Wenn aber die Werke der Künste mehr als bloßes Spiel der Einbildungskraft seyn sollen, die blos das widergiebt, was sie aus den Sinnen geschöpft hat, wenn sie freie Wirkung der Selbstthätigkeit sind, die sich über die sinnliche Welt erhebt, und sie beherrscht, so darf auch das Gefühl der Sittlichkeit nicht vernachlässiget werden."


Friedrich Benjamin Osiander: Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben. Eine Schrift sowohl für Policei- und Justiz-Beamte, als für gerichtliche Aerzte und Wundärzte, für Psychologen und Volkslehrer. Hannover: Hahn 1813. S. 298-303.