Ein gutes Gewissen ist keins. Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei. Diese "durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst" ist nicht repräsentierbar. Sie muß "innerliche Einsamkeit" bleiben. Es kann keiner vom anderen verlangen, was er gern hätte, der aber nicht geben will. Oder kann. Und das ist nicht nur deutsche idealistische Philosophie. In der Literatur, zum Beispiel, Praxis. Bei Kleist. Und jetzt kann ich doch noch etwas Schönes bringen. Herrliche Aktionen bei Kleist, in denen das Gewissen als das schlechthin Persönliche geachtet, wenn nicht sogar gefeiert wird. Der Reitergeneral Prinz von Homburg hat sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten, der Kurfürst verurteilt ihn zum Tode, dann, plötzlich: "Er ist begnadigt!" Natalie kann es kaum glauben: "Ihm soll vergeben sein? Er stirbt jetzt nicht?" fragt sie. Und der Kurfürst: "Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt / Trag ich im Innersten für sein Gefühl / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten / Kassier' ich die Artikel; er ist frei!"

Also, es wird ganz vom Gefühl des Verurteilten abhängig gemacht, ob das Todesurteil vollzogen wird. Wenn der Verurteilte das Urteil für ungerecht halten kann, ist er frei.

Das ist Gewissensfreiheit, die ich meine.


Dankesrede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998
(http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/W ... edenspreis: "Der Text folgt dem gesprochenen Wort. Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.): Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Martin Walser. Ansprachen aus Anlaß der Verleihung, Frankfurt/Main 1998" - aufgerufen 8. 9. 2008)