O. Frankl
Festspruch anläßlich der Feier des 100. Todestages Kleists im Reichenberger Stadttheater

Ein  M e n s c h e n schicksal! – Schwerer trug wohl keiner
Die Last des Lebens, die zur Erde drückt;
In Tagen böser Unrast dumpf von einer
Tief innern Glut der Leidenschaft berückt,
Und doch ein Stamm, umbrandet rings von Wogen,
Im Sturm geborsten zwar, doch nicht gebogen.

Ein  D i c h t e r schicksal! – Strebenswert wie einer,
Dem gnädig-hold die Muse zugenickt,
In stetem Künstleringen immer reiner
Zu flammender Begeisterung entzückt.

Als Mensch, als Dichter, ach, nur halb vollendet,
Ein echter Sohn der wildbewegten Zeit,
Und doch in allem, was er uns gespendet,
Ein Mann, geschaffen für die Ewigkeit! –

Wie er Gestalten seiner Dichterseele
Mit heißem Hauch zu neuem Leben goß,
Wie alles, was das wunde Herz auch quäle,
Zu hoher Kunst der Dichtung ihm ersproß;

Wie er von Freiheit, Menschenehre sang,
Ein Band der Kunst um Ideale schlang,
Wie er, ein deutscher Mann, fürs Vaterland
Die schönsten, höchsten Dichterworte fand,
Wie er ums Recht für seinen Helden stritt,
In diesem Kampfe selbst am meisten litt:

Das macht ihn groß, das macht ihn uns vertraut,
Daß er mit Seherblick das Menschlichste erschaut;
Daß aus den Wesen, die er dichtend schuf,
Sein volles Herz ertönt im Kampfes-Ruf. –

Du großer Geist, du zahltest den Tribut,
Den Künstler stets der Erde noch gezollt,
Du zahltest ihn mit deinem eignen Blut,
Fürwahr: der Kostbarste, der höchste Sold!
D o c h  w o  d e i n  G e n i u s  d i e  E r d e  s t r e i f t ,
I n  t a u s e n d  H e r z e n  i s t  d i e  S a a t  g e r e i f t .

Was du als schönsten Lohn erstrebt im Leben,
Daß von der Bühne man dich ganz versteht,
Was du in nimmermüdem, heißem Streben
Vergebens von der Mitwelt hast erfleht:
Die Nachwelt zollt für das, was du geduldet,
Was du getan, den Dank, den sie dir schuldet.

Auch du ein Prinz darfst sagen: »Du bist mein,
Unsterblichkeit!« Aus tausendfachem Glanze
Begeistert glühnder Augen strahlt ein Schein
Empor nach deinem ewig grünen Kranze.
Zu deinem Ruhme blasen die Fanfaren!
»R e i c h t  i h m  d e n  L o r b e e r  h e u t :  n a c h  h u n d e r t  J a h r e n ! «

1911


O. Frankl [vermutl. Oskar B. Frankl, 1881-?]
Aus: Minde-Pouet (1927), S. 38-39.