Wilhelm Henzen
Kleist
Zur Enthüllung des Kleistdenkmals in Frankfurt a. d. O.

Wie! Hör‘ ich noch der Raben heis’re Stimmen:
»Der ist verfemt, der Selbstmordfrevel übt?«
Und müssen Augen, die von Tränen schwimmen,
Weil unerhörtes Mitleidsweh sie trübt,
Mitschuldbeladen sich zu Boden senken?
O Gott der Gnade, laß es mich nicht denken!
Voll tiefster Qual und höchster Seligkeit,
Hat ihn das Leben selbst dem Tod geweiht.

Er stieg empor zu unentdeckten Firnen,
Von neuer Sonne Morgengruß geweckt,
Und nach dem Lorbeer auf erhab’nen Stirnen
Hat er die fast zu kühne Hand gestreckt.
Nach jedem Sturze größer nur im Schaffen,
Gigantisch weiß er sich emporzuraffen,
Bis ihm, den Wahnsinn fieberheiß umirrt,
Der Eigentod zu kühlem Troste wird.

Nun seht sein Jünglingsbildnis schmachgereinigt,
Das hold der Genius seiner Kunst umzirkt;
Nun seht den höchsten beiden ihn vereinigt,
Die einst an Weimars Ilmparnaß gewirkt.
Dem Toten gönnt die einzig rechte Hülle
Und überdeckt ihn mit des Lorbeers Fülle:
Um seiner Dichtung lichtgewob’nes Kleid
Weht Himmelsodem, weht Unsterblichkeit.

1910


Wilhelm Henzen
Aus: Minde-Pouet (1927), S. 24.