Paul Ernst
Die Kunstfigur und die Maske

Personen: Ödipus (von Sophokles), Penthesilea (von Kleist).
                                   Ort: Das Jenseits.
ÖDIPUS … und so sind wir, Geschöpfe edler Dichter, mehr wie die Menschen, welche doch die Geschöpfe der Götter sind.
PENTHESILEA Du stehst so lange, König? Wirst du nicht müde? Willst du dich nicht setzen?
ÖDIPUS Mein Dichter hat mich dazu bestimmt, zu stehen. Er gab mir nicht die Fähigkeit, zu sitzen.
PENTHESILEA kichert: Er gab dir viele Fähigkeiten nicht.
ÖDIPUS stirnrunzelnd: Er gab mir diejenigen Fähigkeiten mit, welche für meine Stellung im Drama notwendig sind. Denn ein Überschuß unnötiger Kräfte würde eine Disharmonie erzeugen, welche der gewöhnlichen Disharmonie des täglichen Lebens und der Wirklichkeit ähnlich wäre; hier nämlich entsteht Unglück, Verdruß und das meiste Trübe durch unverwendete Kräfte, welche sich untereinander bekriegen, da sie keinen vernünftigen Zweck finden.
PENTHESILEA Was Penthesilea als Weib sich merken soll?
ÖDIPUS Als Weib; denn die Zweckmäßigkeit ist eine männliche Betrachtungsweise.
PENTHESILEA Und doch bin auch ich von einem männlichen Dichter geschaffen.
ÖDIPUS Aber Kleist war nicht ein so großer Mann wie Sophokles. Du weißt, daß uns vollendeten Geschöpfen der Dichter verstattet ist, zwischen den unsterblichen Dichtern im Elysium zu wandeln –
PENTHESILEA schnippisch: Ich war nie dort.
ÖDIPUS Ich weiß. Da hörte ich ein Gespräch zwischen Shakespeare und Sophokles über das Weib; und Shakespeare sagte: »Die Weiber stehen näher zu den trüben Urgründen der Natur und dem Grausigen des Zwecklosen und Unbewußten wie die Männer, und wir wissen das. Aber sie leben in ihrer Beziehung zu den Männern, wie die Schauspieler in ihrer Beziehung zum Spielleiter leben: nämlich der Spielleiter kann selbst nicht spielen, aber er sagt den Schauspielern, wie sie spielen müssen, und die können dann das, was der Spielleiter will. So verlangen die Männer von den Weibern hohe sittliche Tugenden, die als Grundlage eine vernünftige Überlegung und klares Bewußtsein haben, und die Weiber haben dann diese Tugenden, indessen die Männer sie nicht haben.« Sophokles erwiderte: »So würde also der bedeutende Dichter die Weiber nie so darstellen, wie sie in Wirklichkeit sind, sondern wie sie als Widerspiegelung des auf sie gerichteten männlichen Willens werden; oder vielmehr werden sollen, da ein solches Ziel in der Wirklichkeit natürlich nie erreicht wird. Und ich wenigstens habe meine Frauen so geschaffen.« Ihm antwortete Shakespeare: »Ich auch, o mein großer Gegner, und nicht mit Unrecht nennt jeden von uns sein Volk mit dem Beinamen des Süßen«.
PENTHESILEA Ich weiß wohl, daß die, welche in Elysium wandeln, eine sehr hohe Meinung von sich haben. Aber außer ihnen gibt es noch andere Dichter.
ÖDIPUS In beidem hast du sehr wahr gesprochen.
PENTHESILEA Auch ich höre auf die Gespräche der Dichter, und vielleicht noch angestrengter wie du; denn meine widerspruchsvolle Natur quält mich, und ich suche zu Klarheit über mich zu kommen, indem ich meinem Schöpfer und seinen Freunden lausche.
ÖDIPUS Wenn deine Natur schon dich selber quält und dir unklar ist, was sollen dann die anderen Menschen von dir sagen?
PENTHESILEA Daß ein Funke der großen Weltseele in mir glimmt, daß ich nicht ein einzelnes Wesen bin, sondern Zugang zu der großen Natur; und daß die Wirklichkeit grausig und lieblich, schön und abscheulich, himmlisch und höllisch – daß alles in allem ist.
ÖDIPUS Und was weiter?
PENTHESILEA Weiter? Ist das nicht die Poesie, diese Empfindung?
ÖDIPUS Es ist eine Empfindung, aber die Dichtkunst erweckt noch viele andere Empfindungen.
PENTHESILEA Aber stehen nicht die Menschen mit dieser einen Empfindung immer der Natur gegenüber?
ÖDIPUS Das mag sein oder nicht sein, es geht mich nichts an, da ich nicht Natur bin, sondern ein Höheres, nämlich ein Dichtwerk.
PENTHESILEA Du, ein Höheres als die Natur! Setze dich, König, setze dich doch!
ÖDIPUS Ich sagte dir schon: mein Meister hat mich so geschaffen, daß ich nicht müde werde. Aber du, die du glaubst, Natur zu sein …
PENTHESILEA Wie, glaubst zu sein?
ÖDIPUS Ich sehe dich immer nur von vorn, nur dein Antlitz und nicht deinen Rücken.
PENTHESILEA verlegen: Ich … ich finde es nicht passend.
ÖDIPUS Da du ein junges Mädchen bist, so ist diese Antwort ganz natürlich. Aber ich würde so gern die ganze Schönheit deiner Figur sehen, denn Natur schafft ja doch plastische Wesen.
PENTHESILEA Wie meinst du, plastische Wesen?
ÖDIPUS Solltest du prüde sein? Du scheinst mir freilich nicht ganz griechisch, sondern recht deutsch; so hinterlistig deutsch, indem deine Empfindsamkeit unter Hysterie versteckt ist –
PENTHESILEA Du beschimpfest mich. Ich gehe.
ÖDIPUS Aber du gehst nicht? Freilich, wenn du gehen wolltest, dann müßtest du dich umdrehen.
PENTHESILEA weint.
ÖDIPUS legt ihr väterlich die Hand auf die Schulter: Errege dich doch nicht nutzlos, Kleine. Ich weiß ja doch alles. Du bist einer jener Geister, die nur eine Vorderseite haben und keine Rückseite, die hohl sind wie eine Maske …
PENTHESILEA wütend: Wie eine Maske!
ÖDIPUS … durch die ein anderer spricht. Meinst du, ich verstehe nicht den Klang von deines Dichters Stimme, die aus deinem Munde geht?

1921


Paul Ernst (1866-1933)
Aus: Paul Ernst: Erdachte Gespräche. München 1921. S. 109-112.
Wiederabdruck: Sembdner (2. Aufl. 1985), S. 87-90.