Rudolf Borchardt

Schatten vom Wannsee


Wohin des Wegs in so viel Lorbeer, Schemen
Mit den Pistolen in der Hand?
Kommst Du ein zweites Mal den Abschied nehmen
Von einem solchen Vaterland?

Willst Du dies Vaterland nur wieder grüßen?
Zusehn ob hundert Jahr und mehr
An ihm vermocht, den Aiastod zu büßen
Des letzten Preußen ohn ein Heer?

Geistervorbeiwehn, fasse Dich, nicht weiter! –
Bemiß den durchsichtigen Fuß
Am Augenblick der uns gemeinen Leiter
Dir steigend, die ich abwärts muß –

Laß zwischen uns getauscht die Silbe schweben
Nach der ich dürste und Du nach darbst –
Verzeih erst Du mir daß ich noch am Leben,
Und ich verzeih Dir daß Du starbst.

Warum? Gewiß, und doch warum? Ein andrer
Geringrer Mann, gewiß. Doch warum Du?
Was siegelte Dir immergrüner Wandrer
Den Tiefblick unterm Kranze zu,

Daß Du die Saiten überm Stein zertratest
Ein Meuterer wider Stabgewalt und Pflicht,
Du der noch rings, schon rings, ein Deutschland hattest
Das schon zu denken uns zerbricht!

Noch liebevoll und ernsthaft im Geringsten
Das ganze unentehrte Land
So flammenstill, ein ausgegossenes Pfingsten,
Die Jugenden im Gnadenstand,

Fürsten im Leid ein Beispiel, Reiche dankbar,
Pöbel gebannt und Armut in Geduld,
Das Bürgerkind, die Magd am Herde sangbar
Und Fraun auf Knien geworbener Huld,

Der Schulen Inbrunst, die den Qualm verzehrte,
Das Kreuz ergrünend als ein Gold –
Schöpfer Bekenner Schauende Bekehrte –
Und mit Musik herangerollt

Lied hinterm Berge lallend noch und stammelnd,
Noch unterm Steine dumpf und jung.
Doch Hoch- zu Hochflut überall schon sich sammelnd,
Ein Stromgang der Begeisterung;

Der Namen schlichtester uns im Geschmeide
Noch silbern Deines Firmaments,
Und Sterne! Unsere Herz- und Tränenweide
In Trübsal, Flucht und Pestilenz –

Geschlagne? Doch nur aus dem Feld Verdrängte –
Aus dieser nicht noch jener Welt.
Geknechtet? Doch vom Feind nur, der Euch zwängte,
Euch bliebt ihr immernoch heimgestellt

Und der Erretterin Not. Entehrt? die Ehre
Holt nicht zurück wer auf sich schoß.
Verkannt? Erstochen vom vergiftigen Speere
Und Kotzebue auf Deinem Roß?

Verraten und verkauft? bei Seit geschoben,
Hungernd belächelt und verschrien?
Vom Tintenfisch verschlungen und geschroben
Durch alle Höllen und Berlin –

Halblob das scheelt und ganzer Haß der heuchelt,
Neid der Dich sprengt daß er nicht springt,
Begönnerung die Dich aushält oder meuchelt
Nach dem’s die Lage mit sich bringt?

Wol wol; und dennoch? das freilich: unvergeßlich
Das zweierlei Deutschland: Schicksalspaar
Neid und der Held. Weh allem was nicht häßlich,
Weh Haupteslänge ob aller Schar.

Und dennoch. Zwar, mir in der Seele reißt es
Daß du’s erlittest. Zwar, gespart
Wards keinem. Nur der Herrschende verbeißt es
Daß nie wer ahne, wies ihm ward.

Kein Krätziger sich mit seinem Ächzen brüste
Das ihm der Eselstritt entstieß,
Noch sich sein rühme, daß er auch nur wüßte
Nach welcher Krätzen Art er hieß;

Nur, wenn der Himmel taubt, wenn mit der Schwelle
Jahrhunderts kein Jahrhundert ist,
Wasser im Brunn versinken und die Wälle
Der Glauben vor dem Antichrist,

Wenn dem gebrochenen Herzen Überleben
Lästerlich sieht und Pflicht der Tod,
Wenn ich Dich bat, mir sei von Dir vergeben
Daß ich noch werben kann um Brot –

Was zogst Du nicht wie ich ins Eingeweide
Des Grunds den Geisterrest Dir nach
Daß ihn der blöde Teufel nicht der Heide
Ausrotte zu der Zeiten Schmach?

Aufgehn ihm Katakomben neu, sein Haus ist
Die Höhle flüsternd vom Verein –
Sag den Gefallenen, daß es mit uns aus ist
Und Abel tot: Deutschland ist Kain.


Rudolf Borchardt (1877-1945)
Aus: Sembdner (1977), S. 119-122.