Matthias M. Weber/Wolfgang Burgmair
Die "Höchstbegabtensammlung Adele Juda" des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München als medizinhistorische und geistesgeschichtliche Quelle
Erschienen in: Der Archivar. 1993.
Größeres Interesse an der Erhaltung und Archivierung von Krankenunterlagen und anderem Schrift- und Registraturgut aus allen Bereichen der Medizin scheint sich erst seit jüngster Zeit bei Medizinern wie bei Archivaren gebildet zu haben.1 Dies ist umso bedauerlicher, weil durch die bisher verbreitete Haltung, die sich medizinischen Quellen eher selten annahm, wichtiges archivwürdiges Material dezimiert, wenn nicht ganz vernichtet wurde. Trotz dieser Grundstimmung hat sich Registraturgut vor allem in und von Krankenhäusern erhalten, das - archiviert und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht - Anlaß zu vielfältigen Forschungen auf medizinhistorischem und geistesgeschichtlichem Gebiet sein kann. Mag die Erhaltungswürdigkeit solchen Schriftguts mittlerweile außer Zweifel stehen, so ergeben sich allerdings oft juristische Schwierigkeiten bei der Vorlage derartiger Archivalien an Benutzer. Exemplarisch für Möglichkeiten und Problematik dieser Unterlagen soll hier die sogenannte "Höchstbegabtensammlung Adele Juda" dargestellt werden. Sie bildet einen Teilbestand des im Aufbau befindlichen Historischen Archivs der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München (Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, DFA). Diese 1917 durch König Ludwig III. als Stiftung nach bayerischem Landesrecht errichtete Forschungsinstitution der Nervenheilkunde geht auf die Konzeption Emil Kraepelins zurück, der als einer der wichtigsten Begründer der modernen wissenschaftlichen Psychiatrie gelten muß. Die DFA war seit 1924 der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angegliedert und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Max-Planck-Gesellschaft als eines ihrer Institute übernommen ². Die Max-Planck-Gesellschaft bemüht sich seit einigen Jahren, durch die Schaffung ihres zentralen Archivs in Berlin und die Unterstützung von Archivreposituren in ihren Instituten und Forschungsstellen dem Verlust von archivwürdigem Schriftgut entgegenzuwirken ³. Auf diese Weise wurde es unter anderem möglich, gegenwärtig das Archivgut der ehemaligen "Genealogisch-Demographischen-Abteilung (GDA) der DFA", das in den letzten Jahren aus Kellerräumen des Instituts in der Münchner Kraepelinstraße geborgen worden war, sachgemäß neu aufzustellen, archivmäßig zu ordnen und zu repertorisieren4. Ein wesentliches Ergebnis dieser Tätigkeit bildet die Rekonstruktion der bereits erwähnten "Höchstbegabtensammlung Adele Juda". Unter Leitung des damaligen Direktors der DFA, Ernst Rüdin5, erforschte in den Jahren 1928 bis 1944 die Ärztin Adele Juda6 etwa 43o Höchstbegabte ("Geniale") und - aus methodischen Gründen zum Vergleich - Hochbegabte des deutschen Sprachraums, deren Geburtsdaten in die Zeit zwischen 1650 und der Mitte des 19. Jahrhunderts fielen. Dieser Personenkreis wurde einschließlich seiner Familien nach allgemein medizinischen, psychopathologischen, genealogischen und historischen Kriterien untersucht, wobei die Materialien den Kenntnisstand der Studie im Jahr 1944 wiedergeben. Um sich ein möglichst abgerundetes Bild von ihren "Probanden" machen zu können, unternahm Adele Juda von 1928 bis 1940/41 ausgedehnte Forschungsreisen, wobei sie besonderen Wert auf persönliche Gespräche (Interviews) mit den damals noch lebenden Nachkommen der "Genialen" legte. Erleichtert wurde die Kontaktaufnahme mit dem zu befragenden Personenkreis durch die schriftliche Zusicherung der Wahrung absoluter Diskretion und einer ausschließlich anonymen Auswertung der gewonnenen Daten. Das auf privatem Wege gesammelte Material ergänzten und erweiterten Erkundigungen bei Einwohnermeldeämtern, staatlichen und privaten Archiven, Pfarrarchiven, Schulen, Friedhofsverwaltungen und vor allem bei Krankenhäusern und psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten. Darüber hinaus wurden die Akten angereichert durch Zeitungsausschnitte und Fotografien sowie durch Sonderdrucke von Aufsätzen und Büchern, deren Autoren meist zu den Verwandten oder Nachkommen des jeweiligen "Probanden" zählten. Kernpunkt des Projekts von Dr. Juda war die "Erforschung der Höchstbegabung, ihrer Erbverhältnisse und Beziehungen zu den psychischen Anomalien". Diese Fragestellung muß einerseits als das zeittypische Resultat der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden Diskussion um die "rassenhygienische" Bedeutung der "Entartung" für das "Genieproblem" betrachtet werden7, andererseits als ein wichtiger Bestandteil des psychiatrisch-humangenetischen Forschungskonzepts, das Ernst Rüdin an der GDA entwickelt hatte, in dem weltanschauliche und innerwissenschaftliche Momente zusammenflossen. Daher finden sich in den Akten häufig Gutachten aus psychiatrischen Kliniken und Sanatorien, wobei hier auf die Überlieferung von Krankenberichten innerhalb dieser Anstalten zurückgegriffen wurde, manchmal auch auf Berichte aus "medizinhistorischer Zeit". Diese sehr umfangreichen Nachforschungen bezogen sich allerdings nur auf den Bereich der Höchstbegabten. Daneben bearbeitete Juda noch sogenannte Vergleichsprobanden, meist angeheiratete Familienmitglieder der "Genialen", bei denen die Untersuchungen wenig intensiv durchgeführt wurden. Kriegsbedingt mußte Adele Juda das Projekt mit der Auslagerung der Akten 1944 abschließen. Ihre Ergebnisse wurden nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 und 1953 von Bruno Schulz veröffentlicht8, der ebenfalls der GDA angehörte. Was macht nun den Wert dieser Überlieferung aus und welche archivrechtlichen Fragestellungen ergeben sich? Man mag zuallererst ins Feld führen, daß nach der Veröffentlichung der Ergebnisse dieses Projekt abgeschlossen und damit für die weitere Forschung uninteressant geworden ist. Ein Blick in die Publikationen Adele Judas zeigt jedoch alsbald, daß es sich hier um ein sehr zeitgebundenes Erkenntnisinteresse bei der Erforschung der Höchstbegabung handelte9. Daher lassen sich aus den Materialien sowohl für den Bereich der Medizin- als auch allgemeinen Kulturgeschichte lohnende Forschungsansätze gewinnen, die in mehrfacher Weise für den Historiker von Interesse sein dürften. Um dies zu verdeutlichen, muß im folgenden genauer auf die innere Struktur der Akten eingegangen werden. Wie bereits angedeutet, vereinigt das Projekt in sich medizinische, genealogische und historische Aspekte. Der medizinische Bereich gliedert sich in Krankenberichte der Vergangenheit, Krankenberichte aus der damaligen Gegenwart und eigene psychopathologische Beurteilungen der Interviewpartner durch die Bearbeiterin. Zum genealogischen Bereich gehören die Sammlung von Stammbäumen und sogenannten Sippentafeln, die häufig von Familienforschern erstellt worden waren. Der historische Bereich stellt schließlich den beeindruckendsten Teil des Aktenguts dar: hierunter fallen die Forschungen zum geschichtlichen Umfeld der Probanden, zur Technik- und Naturwissenschaftsgeschichte, die Anreicherung durch Sekundärmaterial, wie Zeitungsartikel, Bücher und Aufsätze. Besonders die letztgenannten beiden Druckmedien sind durch ihre Themenvielfalt beachtenswert. Adele Juda sammelte nicht nur Material, das sich mit den Probanden befaßte, sondern legte auch großen Wert auf Publikationen der Nachkommen zu politischen und weltanschaulich-philosophischen Themen. Die Privatdrucke erschienen häufig im Eigenverlag und sind in öffentlichen Bibliotheken kaum zugänglich. Allein dieses Material bietet ein geistesgeschichtliches Bild des deutschen Bürgertums der Zwischenkriegszeit, das bisher noch nicht beachtet und ausgewertet worden ist. Auch die Aktenführung als solche repräsentiert die zeitgeschichtlichen Umstände: mit "J" gekennzeichnete Probanden waren jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens und wurden in einer eigenen, sogenannten "Judenliste" geführt. Daneben weisen die Aktendeckel der Vergleichsprobandenakten in gleichen Fällen den Vermerk "weg Jude!" auf. Dies kennzeichnete ihre Aussonderung aus der Liste der zu untersuchenden Personen, da die Probanden der "Genialen-Judenliste" und jüdische Vergleichsprobanden nach 1933 offiziell nicht mehr bearbeitet wurden. Adele Juda führte diese Akten jedoch zumindest teilweise weiter, was Bruno Schulz 1955 eine eigene Veröffentlichung über diese Thematik ermöglichte10. Ist der Wert des Aktenmaterials der "Höchstbegabtensammlung" für die historische Forschung ohne Zweifel, so ergeben sich hinsichtlich der Einsichtnahme allerdings mehrere Fragen. Das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft wendet das Bundesarchivgesetz mit seinen §§ 8, 10 und 11 bzw. das Bayerische Archivgesetz mit seinen Artikeln 13 und 14 analog auf seine Bestände an11. Hinzu kommt, daß Ernst Rüdin - wie bereits erwähnt - eine spezielle schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber den Informanten abgegeben hatte, die eine ausschließlich anonyme Auswertung der Angaben zusicherte. Bei der Publikation der Ergebnisse im Rahmen der "Höchstbegabtenforschung" wurde dies auch strikt eingehalten. Die künftige Zugänglichkeit des Materials für rein wissenschaftliche Zwecke wäre aus der Sicht des Medizinhistorikers und Archivars wünschenswert. Neuere Tendenzen des Archivrechts scheinen die Einsichtnahme in historische Patientenunterlagen nach dem Tod der Betroffenen zu wissenschaftlichen Zwecken auch für immer weniger bedenklich zu halten12. Die Diskussion über die Archivierung und Nutzung von Krankenunterlagen hat bereits zu ersten konkreten Ergebnissen geführt, die gleichfalls auf die "Höchstbegabtensammlung" anzuwenden sind. Im Bayerischen Krankenhausgesetz vom 11. September 1990 werden in Artikel 26 Absatz 4 die Nutzungsbestimmungen klar formuliert, nach denen Patientendaten "... zur Aus-, Fort- und Weiterbildung im Krankenhaus ... und ... zu Zwecken der Forschung ..." unter genauer Beachtung der Bestimmungen des Datenschutzes benutzt werden dürfen13. Ähnliches gilt schon ab Juni 1989 für das Land Baden-Württemberg, in dem Krankenakten der staatlichen Krankenhäuser "... bis einschließlich 31. Dezember 1945 ..." in die Staatsarchive übernommen und dort der Nutzung zugeführt werden14. Die Vorlagefähigkeit der Akten aus der "Höchstbegabtensammlung", die wegen der früheren Verpflichtungserklärung aus den dreißiger Jahren bislang nicht gegeben schien, wird deshalb derzeit nach den geschilderten Kriterien nochmals überprüft.
1 Gerhard Fichtner, Krankenunterlagen als Quellen. Auswahl und Erschließung aus der Sicht der Forschung, in: Der Archivar, Jg. 44, 1991, Sp. 549-558. Volker Rödel, Archivierung von Patientenunterlagen, in: Der Archivar, Jg. 44, 1991, Sp. 427-435. Zur Diskussion über die Krankenunterlagen siehe auch: Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, Medizin im Nationalsozialismus, München 1988. (hierin v.a. die Referate von Klaus Dörner, S. 19-27, Paul Weindling, S. 28-33 und Dirk Blasius, S. 51-58); auch: Hans-Ullrich Gallwas, Datenschutz und historische Forschung in verfassungsrechtlicher Sicht, in: Jürgen Weber (Hrsg.), Datenschutz und Forschungsfreiheit. Die Archivgesetzgebung des Bundes auf dem Prüfstand, München 1986, S. 35-44.
2 Matthias M. Weber, "Ein Forschungsinstitut für Psychiatrie ...". Die Entwicklung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München zwischen 1917 und 1945, in: Sudhoffs Archiv, Bd. 75, 1991, S. 74-89.
3 Eckart Henning, Die naturwissenschaftlich-technische Überlieferung in der Bundesrepublik Deutschland. Probleme ihrer archivalischen Sicherung. Aus der Sicht des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, in: Der Archivar, Jg. 44, 1991, Sp. 64-68.
4 Das Bestandsrepertorium wird erstellt von Wolfgang Burgmair, Ingrid-Schulze-Bidlingmaier und Matthias M. Weber.
5 * St. Gallen 1874 - + München 1952. Vgl. Anm. 2.
6 Eine Biographie Adele Judas steht noch aus.
7 Exemplarisch für diesen Forschungsansatz: Ernst Kretschmer, Genie und Rasse, Leipzig 1932.
8 Adele Juda, Höchstbegabung. Ihre Erbverhältnisse sowie ihre Beziehungen zu psychischen Anomalien, München-Berlin 1953.
9 Adele Juda stellte eine im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhte Gefährdung Höchstbegabter für psychische Anomalien fest. Vgl. Anm. 8, S. 93f.
10 Bruno Schulz, Deutschsprachige Höchstbegabte jüdischer Abstammung und ihre Verwandtschaft, in: Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre, Jg. 32, 1955, S. 418-448.
11 Bundesgesetzblatt 1988 I, S. 62 f. Zum Bayerischen Archivgesetz siehe: Walter Jaroschka, Bayerisches Archivgesetz. Einführung und Textausdruck, in: Der Archivar, Jg. 44, 1991, Sp. 535-550 (hierin v.a. Sp. 539-540, 543 _544, 549-550).
12 Volker Rödel, wie Anm. 1.
13 Bayerisches Krankenhausgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 1990, in: Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Nr. 18/1990, S. 395.
14 Hermann Bannasch, Andreas Maisch und Gregor Richter, Archivrecht in Baden-Württemberg. Texte, Materialien, Erläuterungen, Stuttgart, S. 168 f.