Reinhard Pabst
Aufschlüsse aus Kleist-Ahnentafel
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 7. 1997
Zum Artikel von Sascha Feuchert "Weiße Flecken und wunde Punkte - Nichts Neues in Sachen Kleist: Auch die Höchstbegabtensammlung Adele Judas lüftet keine Geheimnisse" (F.A.Z.-Feuilleton vom 10. Juli): Leben und Freitod des nach eigener Aussage "unbegreiflich unseligen Menschen" Heinrich von Kleist haben schon immer zu psychologischen Deutungsversuchen herausgefordert. Am 5. Mai 1909 stellte der Nervenarzt Isidor Sadger (1867-1949) in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eine "Pathographisch-psychologische Studie" über Kleist zur Diskussion, deren Hauptthese lautete, der Dichter habe "lebhafte erotische Neigungen zum eigenen Geschlechte" verspürt. Die ganz schematische und undifferenzierte Vorgehensweise Sadgers stieß auf schroffste Ablehnung. Von Wilhelm Stekel und Otto Rank, vor allem aber von Sigmund Freud mußte sich der Referent harsche Kritik anhören.
Allen Einwänden zum Trotz ließ Sadger den Vortrag 1910 als Buch drucken und beeinflußte damit ironischerweise mehr als alle anderen Freudianer, die sich mit dem "Kleist-Problem" auseinandersetzten - Ernest Jones (1911), Alfred Winterstein (1912), Lou Andreas-Salome (1934), Fritz Wittels (1954) -, die Rezeption des Dichters. Noch die jüngste biographische Gesamtdarstellung (1989) von Hans Dieter Zimmermann, der nach wie vor behauptet, Kleist sei "ein Schwuler" gewesen, ist - uneingestandenermaßen - Sadgers Auffassung, "daß Kleist homosexuell empfand", verpflichtet. Auch Adele Juda war sehr viel stärker vom Kleist-Bild lsidor Sadgers geprägt, als dies aus Sascha Feucherts Artikel deutlich wird. Der Katalog angeblicher Verhaltensauffälligkeiten und Wunderlichkeiten Kleists, den er aus den lange verschlossenen "Aufzeichnungen der Münchener Wissenschaftlerin" mitteilt, beruht im wesentlichen auf (von ihm nicht erkannten) Exzerpten aus Sadgers Monographie. Die unkommentierte Wiedergabe von Zitaten aus Adele Judas Notizen durch den in der Kleist-Forschung bislang nicht hervorgetretenen Autor trägt zur Erhellung der Zusammenhänge kaum etwas bei.
Ein schwacher Trost: Die Kleist-Experten, die die von Adele Juda angelegten Kleist-Ahnentafel in Augenschein genommen haben, sind keineswegs mit leeren Händen nach Hause gefahren. Professor Dr. Klaus Müller-Salget (Innsbruck), Vorstandsmitglied der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und einer der neuen Herausgeber des Kleist-Jahrbuchs, hat für den Kommentar seiner Kleist-Briefausgabe immerhin "drei zusätzlich Daten/Präzisierungen zu Verwandten Kleists" aus München mitnehmen können. Der Band soll im September im Deutschen Klassiker Verlag erscheinen.
Reinhard Pabst, Frankfurt am Main