Stefan Ormanns

Uneins über Kleist-Quellen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 3. 1997


Zum Kleist-Beitrag von Reinhard Pabst "Blicke hinter jesuitische Jalousien" (F.A.Z.-Feuilleton vom 4. Februar) und zum Brief von Leser Professor Dr. Dirk Grathoff "Kleistforscher-Intrigen" (F.A.Z. vom 13. Februar): Pabsts Beitrag wird der seriösen Kleist-Forschung weitere Anstöße geben. Als Mitherausgeber der Kleist-Ausgabe im "Deutschen Klassiker Verlag" bin ich mit der Materie mehr als nur obenhin vertraut und weiß, wovon ich spreche.

Zutreffend und mit Pointe skizziert Pabst einige besonders unklare Stationen in Kleists Biographie. Was er nebenher zur weiteren Kartierung dieser "weißen Flecken" beisteuert, ist höchst beachtlich: Ich denke vor allem an den neuen Vorschlag zur möglichen Deutung der Camouflage "Klingstedt" und die Erstveröffentlichung von Kleists Eintrag im Benutzerbuch der Herzoglichen Bibliothek in Weimar. Auch das den Beitrag zierende Teilfaksimile des verschollenen Briefes an Rühle ist eine erfreuliche Trouvaille; ich jedenfalls kannte es noch nicht, obwohl ich über Kleist-Briefautographen ziemlich gut Bescheid weiß.

Von Interesse sind schließlich Pabsts Hinweise auf die sogenannte "Höchstbegabtensammlung Adele Juda" im Archiv des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, die sachlich und in gebotener Ausführlichkeit erfolgen. Ein mitschwingender Entdeckerstolz Papbsts ist verständlich, hat er der bislang ganz unbekannten Quelle für seine Büchner-Forschungen doch einiges entnehmen können. Auch die seriöse Kleist-Forschung (freilich nur diese) ist gut beraten, dieser Spur nachzugehen, tunlichst mit nüchterner Vorerwartung und ohne viel Aufhebens. Entsprechende Schritte sind von mir und von anderen Kollegen bereits unternommen worden. Mit einem Dank an Pabst könnte man an die weitere Arbeit gehen, würde die dazu erforderliche Ruhe nicht durch schrille Posaunenstöße empfindlich gestört. Der eifernd-eifersüchtige Brief von Leser Professor Grathoff könnte geeignet sein, ernsthafte Forschung im Münchner Archiv zu behindern, denn erst diese Replik rückt die Angelegenheit ganz unangemessen in eine "reißerische" Dimension. Aus Grathoffs Zuschrift muß man den Eindruck gewinnen, er wisse seit "15 Jahren" um die "Quellenschätze" des Münchner Archivs. Schon die Tatsache, daß er von "Quellenschätzen" zu sprechen wagt, läßt in mir Zweifel an der Seriosität seiner Darlegung aufkommen. Nach meinen Informationen (MPI-Archiv) handelt es sich um "ausschließlich genealogisch-demographisches Material" sowie um einschlägige Korrespondenzen aus den dreißiger Jahren.

Nach meiner Kenntnis ist der Nachlaß Adele Juda erst seit sieben Jahren archivarisch gehoben. Ich wage die Behauptung, daß vor Reinhard Pabst kein Germanist von seiner Existenz überhaupt wußte. Des weiteren: Der gesamten Kleist-Forschung war bisher das Wo und Wie von Kleists Weimarer Quartier im Winter 1802 absolut unbekannt. Professor Grathoff überrascht die Fachwelt mit genaueren Kenntnissen, er weiß sogar, daß es "schäbig" war. Nähere Informationen könnten dem Briefband der DKV-Kleist-Ausgabe noch zugute kommen, auch die Kollegen von der "Brandenburger Kleist-Ausgabe" wären sicher erfreut. Und zum Schlußsatz von Professor Grathoffs Brief: Wie hätte der fünfundzwanzigjährige "Nobody" Kleist sich unterstehen können, den Minister und Geheimen Rat Goethe bei sich zu empfangen? Selbstverständlich hätte er Goethe per Billett darum ersuchen müssen, seine Aufwartung machen zu dürfen.

Dr. Stefan Ormanns, Bonn