Dirk Grathoff
Kleistforscher-Intrigen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 2. 1997
Zum Artikel von Reinhard Pabst "Blicke hinter jesuitische Jalousien - Weiße Flecke und neue Spuren zum unerklärlichen Heinrich von Kleist" (F.A.Z.-Feuilleton vom 4. Februar): Nun ist es also heraus, ausgeplaudert ist er, der Geheimtip, an den sich die Hoffnungen einer verzweifelt orientierungslosen, aber seriösen Kleistforschung klammerten. Verraten von einem Butzbacher Dachbodenforscher, der seine Spürnase besser auf Büchners hessische Hinterlassenschaften konzentrieren sollte, statt unseren märkischen Kleist bis in die Münchner Psychiatrie zu verfolgen. Die Veröffentlichung dieses Artikels ist ein Skandal, dessen forschungsbehindernde, ja zerstörerische Wirkungen Sie in gewohnter journalistischer Leichtsinnigkeit nicht bedacht haben. Seit nunmehr 15 Jahren bemühe ich mich vergebens, von der Familie von Kleist die Genehmigung zur Einsicht in die Quellenschätze des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie zu erhalten. Ob dahinter wieder einmal die landläufig bekannten Intrigen und Ränkespiele der verfeindeten Kleistforschungsfraktionen stecken, ob ich vielleicht die genealogisch inadäquaten Ansprechpartner des Hauses Kleist gesucht habe, muß hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist durch Ihre leichtfertige Veröffentlichung nun allen gebetenen und ungebetenen Schnüfflern Tür und Tor geöffnet. Und was wird geschehen? Die verheerende Pathologisierung Heinrich von Kleists, gegen die ich Arm in Arm mit der seriösen Kleistforschung seit Jahren zu Felde ziehe, wird neue Nahrung erhalten. Was soll man sonst von den psychiatrischen Archivmaterialien aus München erwarten, wenn sie in die falschen Hände geraten? Bekanntlich hat Goethe mit seinem Krankheitsverdikt über Kleist diese lange Tradition der Pathologisierung eröffnet, aber nicht deshalb hat Kleist im Dezember 1802 die persönliche Begegnung mit ihm in Weimar gemieden, sondern, dies sei dem nicht vollständig informierten Büchnerforscher Pabst abschließend verraten, weil Kleists Weimarer Quartier im Winter 1802 einfach zu schäbig war, um Goethe dort zu empfangen. (Professor Dr. Dirk Grathoff, Universität Oldenburg)