Reinhard Pabst
Blicke hinter jesuitische Jalousien. Weiße Flecken und neue Spuren zum unerklärlichen Heinrich von Kleist
Erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 1997
In seinem vierten Brief aus Würzburg an die Verlobte Wilhelmine von Zenge beschrieb Heinrich von Kleist am 20. September 1800 das Logis, das er kurz zuvor gemeinsam mit Ludwig von Brockes bezogen hatte: „Unser Zimmer [...] ist ziemlich hell. Wir haben das Eckzimmer mit 4 Fenstern von zwei Seiten. In Rom war ein Mann, der in Wänden von Glas wohnte, um die ganze Stadt zum Zeugen aller seiner Handlungen zu machen. Hier würde ganz Würzburg ein Zeuge der unsrigen sein, wenn es hier nicht jene jesuitischen Jalousien gäbe, aus welchen man füglich hinaus sehen kann, ohne daß von außen hinein gesehen werden könnte." Die Jalousien, mit denen Kleist sich in dem „versteckten Häuschen" des Stadt-Chirurgus Joseph Wirth vor neugierigen Blicken schützen wollte, erfüllen auch noch fast zweihundert Jahre später ihren Zweck. Das Eckzimmer hat sein Geheimnis nicht preisgegeben, der Anlaß der rätselhaften „Würzburger Reise" Kleists, die ihn doch ursprünglich nach Wien hätte führen sollen, liegt nach wie vor im dunkeln. Je weniger die Kleist-Forscher durch die Fensterläden spähen konnten, desto mehr malten sie sich aus, was dahinter wohl vorgegangen sein mochte – und schlugen dabei jede Warnung Kleists („Unterlasse alle Anwendungen, Folgerungen und Kombinationen. Sie müssen falsch sein, weil Du mich nicht ganz verstehen kannst") in den fränkischen Wind. Mal sollte es ein Auftrag als „Industriespion" gewesen sein, den Kleist in Würzburg erledigt haben könnte, mal ließ er dort angeblich „eine wie auch immer verursachte Impotenz" medizinisch behandeln, mal vermutete man, es seien allgemein „berufliche Pläne" gewesen, derentwegen er an den Main kam, mal war es angeblich speziell die „Suche nach Freimaurerkontakten". Kleist selbst, der offenbar „wirklich krank" (Joseph Wirth) war und in dessen Korrespondenz mit der Verlobten Ende September 1800 eine einwöchige Unterbrechung auffällt, machte brieflich nur die merkwürdige Andeutung, daß ihn mehrmals ein Arzt aufsuchen mußte und Brockes nachts an seinem Bett Wache hielt („ein Opfer", von dem Kleist „auch nicht das mindeste erfuhr, bis spät nachher"). Der Aufenthalt in Würzburg, für den er sich von Brockes eine größere Summe Geld lieh, ist nicht das einzige ungelöste Rätsel in Kleists Biographie. Ungeklärt ist auch, weshalb er sich bei Antritt der Reise Ende August 1800 in Berlin einen falschen Namen und eine falsche Vita zulegte. Kleist gab vor, Klingstedt zu heißen, der Sohn eines „invaliden schwedischen Kapitäns" zu sein, von der Insel Rügen zu stammen und Mathematik zu studieren. Was hat die anagrammatische Tarnung – in „Klingstedt" läßt sich der Name Kleist Buchstabe für Buchstabe verbergen – zu bedeuten? („Heinrich Klingstedt" am 1. September 1800 an die Verlobte: „Was wird Kleist sagen, wenn er einst bei Dir Briefe von Klingstedt finden wird?") Und was wußte Kleist über die schwedische Familie Klingstedt, die es – von der Forschung übersehen – tatsächlich gab, was wußte er über ihre Verbindungen nach Pommern? Wozu überhaupt der ganze Aufwand mit den fingierien Personalien? Neuere germanistische Dissertationen (Frank Haase: „Kleists Nachrichtentechnik", 1986; Ekkehard Zeeb: „Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte. Ausschreitungen des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists", 1995) haben aus dem Kryptonym Klingstedt ein Echo jener imaginären „Konzerte" heraushören wollen, welche Kleist auch in Würzburg synästhetisch „umtönten": „Kling-Stedt" – „klingende Stätte" – „Sphärenmusik". Wie man in Kleist hineinruft, so schallt es einem entgegen, der Wahnsinn hat Methode. Ebensogut könnte jemand behaupten, „Klingstedt" sei die Verballhornung von „Klingen-Stadt" – weil doch Würzburg der Ort war, wo Kleist unters Operationsmesser gekommen oder wo er in die freimaurerische Symbolik des Schwertes eingeweiht worden sein könnte. Sowenig die seriöse Forschung das Würzburger Geheimnis des Herrn Klingstedt lüften konnte, sowenig gelang es ihr, Licht in andere Abschnitte der Biographie Heinrich von Kleists zu bringen. Wichtige Fragen wie etwa die, ob es im Winter 1802/03 zu persönlichen Begegnungen Kleists mit Goethe oder Schiller kam, mußten unbeantwortet bleiben. Zur Rekonstruktion seines Besuchs in Weimar ist man auf mehr oder minder zuverlässige Erinnerungen von Zeitgenossen angewiesen, die zum Teil Jahrzehnte später aufgezeichnet wurden. Das einzige nichtbriefliche Dokument von Kleists Hand aus dieser Zeit ist sein Eintrag als Besucher der herzoglichen Bibliothek („Heinrich von Kleist, aus Frankfurt a/Oder") – und er wurde von der Forschung bislang nicht beachtet. Weiße Flecken auf der Landkarte, wohin man schaut: Dazu zählt auch Kleists mysteriöses Untertauchen in Mainz und Koblenz (1803/04) und nicht zuletzt seine Kindheit und Schulzeit. Die „Lebensspuren" aus den Jahren von 1777 bis 1792 nehmen in Helmut Sembdners Sammlung, die 1996 in siebter, erweiterter Neuauflage erschien, nur sieben der insgesamt über fünfhundert Druckseiten ein. Mußte man bislang davon ausgehen daß nach zwei Weltkriegen und ihren Folgen die Überlieferungslücken zumal auf diesem Gebiet nicht mehr zu schließen seien, so gibt es jetzt möglicherweise eine Spur zu neuen biographischen Informationen. Von 1927/28 an führte die Neurologin Adele Juda (1888-1949) an der Genealogisch-Demographischen Abteilung der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie" in München Untersuchungen durch, die der vermeintlich „methodisch einwandfreien Klarstellung des Zusammenhangs von ,Genie und Irrsinn’" dienen sollten. Die von Cesare Lombroso entfachte Debatte über die Kausalität von „Genie und Irrsinn", an der sich bekanntlich auch Gottfried Benn beteiligte, erhielt Ende der zwanziger Jahre durch Wilhelm Lange-Eichbaum („Genie, Irrsinn und Ruhm") und Ernst Kretschmer („Geniale Menschen") neuen Zündstoff. Das Münchner Forschungsprojekt, von Ernst Rüdin konzipiert und von Adele Juda betreut, glaubte mit statistischen Erhebungen zu „Begabungs- und Gesundheitsverhältnissen in den Familien genialer Künstler und Wissenschaftler" unter diese Debatte einen Schlußstrich ziehen zu können. Als „Probanden" wurden insgesamt rund dreihundert deutschsprachige „Geniale" der Jahrgänge 1650 bis etwa 1860 aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgewählt. Auf der Liste der zu analysierenden „höchstbegabten" Dichter standen außer Kleist zum Beispiel Namen wie Brentano, Droste-Hülshoff, Eichendorff, Goethe, Grillparzer, Heine, Hölderlin, E. T. A. Hoffmann, Keller, Lenau, Lenz, C. F. Meyer, Schiller, Storm, Tieck und Wieland. Da Adele Juda vor ihrem Medizin- ein Musikstudium absolviert hatte, verwandte sie im übrigen auf die Bearbeitung der Komponistenbiographien von Bach bis Mahler besondere Sorgfalt. Zur Erforschung der „Höchstbegabung, ihrer Erbverhältnisse wie ihrer Beziehungen zu psychischen Anomalien" beschränkte sie sich keineswegs darauf, Primär- und Sekundärliteratur heranzuziehen. Sie nahm mit allen Angehörigen der „Genialen", soweit erreichbar, direkten Kontakt auf und ließ sich von ihnen unter der Zusicherung, absolute Diskretion zu wahren und alle Auskünfte in Publikationen zu anonymisieren, in ausführlichen Briefen und eingehenden Interviews minutiös aus der mündlich wie schriftlich tradierten Familiengeschichte berichten. Zusätzlich recherchierte sie in Stadt- und Staatsarchiven, Schul- und Krankenhausverwaltungen. Die „nach allgemein medizinischen, psychopathologischen, genealogischen und historischen Kriterien" (Matthias M. Weber) erstellten Personendossiers wurden ferner um Reproduktionen von Porträts, um Stammbäume sowie um Bücher und Aufsätze der „Probanden" und ihrer Verwandten angereichert. Bis zum Abbruch ihrer Tätigkeit (1944) schuf Adele Juda auf diese Weise den Grundstock zu einer Kollektivbiographie und -pathographie der deutschsprachigen Intelligenz zwischen 1700 und 1900. Sie konnte feststellen, „daß in den Familien der Höchstbegabten sowohl endogene Psychosen als auch Psychopathien im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung deutlich gehäuft vorkommen" (Matthias M. Weber). Damit waren freilich weniger die Thesen Lombrosos und Lange-Eichbaums widerlegt als vielmehr die des Projektleiters Ernst Rüdin. Der Direktor der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie", der bereits lange vor 1933 vehement die sogenannte „Rassenhygiene" propagierte und der „geistige Vater" (Dirk Blasius) des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes war, hatte sich von Judas aufwendiger Studie die Bestätigung seiner Auffassung versprochen, "daß die Genialen und ihre Familien in überwiegender Mehrzahl geistig durchaus gesund" seien. Nicht von ungefähr wurden Adele Judas Beobachtungen und Schlußfolgerungen erst nach 1945 gedruckt (Adele Juda: „Höchstbegabung. Ihre Erbverhältnisse sowie ihre Beziehungen zu psychischen Anomalien", Verlag Urban & Schwarzenberg, München/Berlin 1953, 114 S., 44Tabellen). Eine kritische Darstellung des Ansatzes und der Ziele ihrer Höchstbegabten-Studie steht jedoch bis heute aus. Auch die ihren Erhebungen zugrunde liegenden Materialien, die im Gegensatz zu vielen darin berücksichtigten Originaldokumenten vor der Vernichtung gerettet werden konnten und unveröffentlicht blieben, harren noch der Auswertung. Sie können weit mehr als nur wissenschaftshistorisches Interesse beanspruchen. Die positivistischen Erträge des Projekts dürften die „Höchstbegabtensammlung" noch heute zu einer Fundgrube für Biographen machen. In den von Adele Juda angelegten Dossiers haben sich „Lebenszeugnisse" erhalten, die nur hier und nirgends sonst überliefert sind:Erinnerungen und Aufzeichnungen aus der „Familienüberlieferung"; amtliche Mitteilungen und Dokumentenabschriften, die die Entwicklung der „Genialen" von der Wiege bis zur Bahre nachzeichnen, auch Anekdotisches und Kurioses. Vielleicht lassen sich hier sogar unbekannte Tatsachen und neue Details zu den „unerklärlichen" Phasen im Leben Kleists zu finden sein werden. Allerdings ist der Zugang zu diesem einzigartigen historischen Quellenfundus an seinem derzeitigen Standort, dem Archiv des Max-Planck-lnstituts für Psychiatrie in München, streng reglementiert. Wer künftig – als Erstnutzer – in die Akte eines der erwähnten Dichter Einsicht nehmen möchte, muß sogar eigens eine Einverständniserklärung der jeweils betroffenen Familie einholen. Das sollte dennoch niemand davon abhalten, mit der wissenschaftlichen Erschließung der „Höchstbegabtensarnmlung Adele Juda" zu beginnen. (Reinhard Pabst ist Mitherausgeber des „Lebenszeugnisse"-Bandes der historisch-kritischen Georg-Büchner-Gesamtausgabe (in Vorbereitung))