Wer fühlt und versteht, was deutsches Wesen, deutsche Art und Kunst bedeutet, hat immer zu Heinrich von Kleist gestanden und steht heute mehr denn je zu ihm. Tausende sind zu seinem einsamen Grabe am Wannsee bei Berlin gewallt und haben sich erinnert, wie er für deutsche Ehre, deutsches Ansehen und deutsche Freiheit in seinem Leben und mit seinen Werken gekämpft und in diesem Kampfe gelitten hat, weil er in einer Zeit lebte, in der sein Ruf noch ungehört verhallte. Mit der wachsenden Erkenntnis seiner Stellung im deutschen Geistesleben wuchs auch die Zahl seiner Anhänger und überraschte durch ihre Höhe schon im Jahre 1910, als Frankfurt (Oder) ihm als Sohn der Stadt ein Denkmal errichtete und die Kleist-Gemeinde dort zum ersten Male sich zeigte. Aus der bis dahin stillen Gemeinde der Freunde und Verehrer Kleists wuchs nach dem Weltkriege 1920 die K l e i s t - G e s e l l s c h a f t empor. Sie wurde mit dem Vorsatz gegründet, dem Kulturverfall jener Zeit einen neuen Kulturglauben und ein neues Kulturwollen entgegenzustellen durch Hinweis auf Heinrich von Kleist, der, in seiner Zeit einsam und unverstanden, ein Wegweiser für uns geworden ist, ein Repräsentant für die deutsche Kulturidee.
Die Kleist-Gesellschaft hat sich die Aufgabe gestellt, die Erinnerung an Heinrich von Kleist im deutschen Volke lebendig zu erhalten, für die Vertiefung der Volkstümlichkeit seiner Werke zu wirken, die Erkenntnis seiner dichterischen Bedeutung zu mehren, das Verständnis für seine Persönlichkeit, insbesondere die durch ihn beflügelte vaterländische Gesinnung zu fördern und auch die mit seinem Namen verknüpfte Literatur- und Geistesgeschichte zu pflegen. Seit ihrer Gründung hat sie in Tagungen, Vorträgen, Ausstellungen, Bühnenaufführungen und Veröffentlichungen zu erweisen sich bemüht, welche Macht der unmittelbaren Lebendigkeit Heinrich von Kleist mit seinem Geiste und seinen Werken für die Gesamtheit der Deutschen besitzt, wie er den Herzpunkt unseres eigensten Empfindens trifft. Um ihre Aufgabe ganz erfüllen zu können, erweiterte die Gesellschaft 1933 ihre Wirksamkeit über die Kreise der Wissenschaft, der Litera-turforschung und des Theaters hinaus auf Volk und Jugend. Sie will die Kräfte des gesamten deutschen Volkes und der deutschen Jugend aufrufen zum Dienst an den geistigen Führern unseres Volkes, um eine innige Verknüpfung ihres Wirkens mit dem bluthaft-wirklichen Leben des Volkes und der wachen Jugend zu erreichen; denn auch die Jugend muß Ehrfurcht lernen vor dem Geist, muß die Dichter und Geisteshelden in ihre Mitte aufnehmen und mit ihnen wachsen. Seitdem bilden öffentliche Kundgebungen für Volk und Jugend einen festen Bestandteil unserer Tagungen.
Kleist hat in seiner menschlichen und dichterischen Entwicklung die Erhöhung des persönlichen Daseins zur überpersönlichen völkischen Lebenshaltung, die Verschmelzung von Individuum und Gemeinschaft dem deutschen Volke vorgelebt. Er ist zum Symbol und Mahner unseres Volkes geworden: ein Ringender bis zu seinem Tode, der die Welt in Recht und Liebe neu schaffen will; ein Aufbegehrer nach einer Welt des freien Gefühls; ein Kämpfer für die Wahrheit. Er hat bekannt, daß Wert und Würde des Lebens nicht durch rationale Maßstäbe, durch Maßstäbe des Nutzens und Glückes bestimmt werden, sondern einzig durch Handeln, das sich in der Erfüllung der Pflicht bewährt. Er ist der Ausdruck für die Entwicklung aus dem kosmopolitisch-humanen in das politisch-nationale Zeitalter. Für ihn ist die Mitverantwortung aller für das Ganze des Vaterlandes die wahre politische Freiheit. Das bezeugen vor allem die Werke seiner Reife, in denen er als politischer Dichter und Schriftsteller vor uns steht. Kleist hat tiefer als andere die Einheit von Vaterland, nationalem Staat und persönlich-menschlichem Heimatgefühl erfaßt. Und die Beseligung, die uns dabei erfüllt, und die Tatkraft, die aus dieser Beseligung erwächst, kann uns nicht irgendein Land, nicht irgendein Volk schaffen, sondern nur unser Land, nur unsere eigene deutsche Volksverwandtschaft. Keiner ruft uns mächtiger zur Selbstbesinnung und zu kühner Kraftentfaltung auf als er. Von ihm können wir lernen, daß nur nationale Kunst urzeugend ist, daß nur innerste Seeleneinkehr einem Volke die Kraft gibt, die zur freiheitschaffenden Tat führt. Kleists Werke sind eine einzige Sehnsucht nach einem Leben des Menschen in Menschenwürde, Selbsterziehung und Liebe im Schutze eines von der Welt geachteten Staatswesens.
Seine wahre Lebensstunde kam erst 1914 mit dem Weltkriege, und sein Schaffen ist in unserer Zeit immer mächtiger erwacht, so daß unser Denken immer wieder um ihn kreist, weil jeder fühlt, daß er heißeste Gegenwart gedichtet hat. Seitdem kennt unser Volk Kleist den Deutschen, und der Weg war frei, in ihm auch den Künstler zu erkennen. Das haben die Feiern erwiesen, mit denen 1927 die 150. Wiederkehr seines Geburtstages und 1936 die 125. Wiederkehr seines Todestages begangen wurden; sie erhoben sich zu nationalen Feiern, wie sie nur den geistigen Führern eines Volkes zuteil werden. Seine Stimme, die aus einer großen deutschen Leidenschaft kommt und von seinen Zeitgenossen gerade deshalb noch nicht vernommen wurde, haben wir gehört und verstanden. Zu keiner Zeit hat die Allgemeinheit Kleist nähergestanden als heute. Vollends seitdem die deutsche Bühne sich von fremdem Geiste gereinigt und für den deutschen Geist wieder freigemacht hatte, war für diesen Dramatiker die Stunde gekommen. Aus einem Objekt für literarhistorische Forschung ist er zu einer lebendigen Kraft geworden. Kleist ragt als Mensch und Dichter, als Vertreter deutscher Art und deutschen Fühlens, zugleich als Vertreter reinsten Menschentums richtungweisend in unsere Gegenwart hinein, in der wieder stark geworden ist, was seinen Geist ausmacht, seine Kunst und seine Gesinnung, die seine unsterbliche Gesundheit ist. Deutsch sein heißt nach Kleist nicht nur von deutschen Eltern geboren sein und dem deutschen Volksstamme angehören, sondern: sich deutsch betätigen!
Aus: Reichswerk Buch und Volk im Nationalsozialistischen Volkskulturwerk Kleist-Gesellschaft e. V. Baruth (Mark) 1943: Särchen. S. 3-5.